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Die Sirenen der Geometrie

 

Wir sind auf Schutt gestoßen. Das erleichtert das Graben eines Abwasserschachtes ungemein. Dreißig Meter harten Hartbeton im GEBÄUDEinneren haben wir hinter uns, circa dreißig Meter Schutt vor uns.
Die Grabungsarbeiten werden vom Grabungsleiter Prof. B. Auer zügig vorangetrieben. Aufmerksam weist uns Dr. Nitram auf erstaunliche Vorkommen von Schlackeansammlungen hin.
Dann trifft Besuch ein.
Hier muss man aufpassen: Manchen Gästen juckt es in den Fingern, bei uns rumzuspateln - steineschleppend, eimertragend - um dann abschließend zu sagen: War schön bei euch.
So nicht. Erst muss ich was zu trinken anbieten und dann muss ich erzählen.
Also:

Der Betrachter steht vor dem GEBÄUDE. Dieses ist fünfzig Meter lang (Ost-West), elf Meter breit (Nord-Süd), seine Scheitelhöhe beträgt dreizehn Meter, die Mauern sind vierhundert bis fünfhundert Milimeter stark, massiv, gegen Feuchtigkeit durch eine Sperrschicht aus Bitumen und Schlackesteinen gesichert, der noch vorhandene Putz ist farblich den trockenen Feldern angepasst. Die Last des Bauwerks trägt ein massives Ringfundament, welches auf Lehmboden steht. Das mit Ziegel bedeckte Dach schwingt sich an einigen Stellen, ohne undicht zu wirken, hier und da findet sich sanfter Bewuchs. Die Wände verfügen über fensterähnliche Öffnungen in regelmäßiger Folge, ihre Anordnung an den Giebeln lässt ein Obergeschoss vermuten.
Dies bestätigt sich im Innern.
Einer der drei Eingänge am Westgiebel  würde den Blick in die untere Etage freigeben und der Betrachter tritt ein. Er steht vor einem fünfhundert Milimeter hohen und drei Meter breiten befahrbaren Wall. Wie ein alpider Bergrücken erhebt er sich aus dem Boden der sich öffnenden Halle, schroff in die Höhe gedrückt und oben blank geschabt von einem längst vergangenen Gletscher. Er verläuft als West-Ost-Achse über neun Elftel der Gesamtlänge des GEBÄUDEs. Sinn und Funktion dieses Walles sind dem  Betrachter erst nach eintausendfünfhundert Millisekunden klar; solange dauert der Blick ans andere Ende und zurück. Um unbeschmutzten Fußes den Ostteil des GEBÄUDES zu erreichen wählt der Betrachter den Wall.
Der Verlauf ist gekonnt in Szene gesetzt.
Zwei Säulenreihen begleiten ihn beidseitig mit einem Abstand von zweihundertfünfzig Milimeter zum Wall . Ein Elftel der West-Ost-Achse - also circa viertausendfünfhundert Milimeter - halten die Säulen Abstand zu einander.  Dadurch entsteht eine Aufteilung des großen Raumes in dreiunddreißig etwa gleich große Zellen mit imaginären Wänden, ein unsichtbares dreidimensionales Gitterwerk. Jene ünübersehbare Einigkeit von Winkel und Streckenlänge wird von der Säulenform bestätigt, auch sie sind regelmäßig geformt - genauer - sie sind rechteckig. In der ganzen Halle bilden sich nun Quader, Volumina, Flächen, Würfel, Flächeninhalte und alles mit einem einzigen Winkelmaß.  Die Natur formt für unsere Augen Kugeln, Zylinder, Kegel und Pyramiden, sie zeichnet Ellipsen, Kreise, Rhomben und sie kann komplexe Strukturen mit  Hexagonen bilden - doch eines scheint ihr fremd: ein Rechteck. Und in diesem Gebäude gibt es nichts anderes zu sehen.

Lautes Geschrei unterbricht uns. Ich schau nach, denn das waren bestimmt Besucher.
Ich schau nach und es sind wirklich Gäste, die ausgelassen spielen.  Das geht so nicht und deshalb schick ich die Bande zu Spitzhacke und Spaten und gebe Professor Auer noch die Namen der Erwischten.
Muss ja fertig werden.
Ich ess noch ein Eis, während der Kaffee kocht.
Seit man hier am Arbeiten ist, gibt es immer wieder Zwischenfälle.
Also:

Das Rechteck, das ist dem Betrachter klar, geht eine Symbiose mit dem Menschen ein.
Der Mensch sorgt für ein regelmäßigeres Auftreten dieser Form, als es die Natur könnte und trägt somit zur Verbreitung des rechten Winkels bei.
Der Mensch huldigt dem Rechteck und dessen Winkel von Anbeginn der Zeit. Auf allen Pfaden, die ein Mensch je gegangen ist, war es irgend eine rechteckige Form, die ihn auf dem richtigen Weg hielt und Hoffnung schöpfen lies. Die Reiter sahen im Staub die Karawanserei, der Europäer freute sich über jeden Campanile, der in der Ferne über den Hügel ragt - Fernost-Reisende waren entzückt über einen riesigen Wall aus regelmäßig behauenen Steinen. Das Rechteck schaffte es in dieser Symbiose,  bis in die Wohnräume des Menschen vorzudringen und errang den Ruf des Unverzichtbaren. Wo immer also Rechtecke auftauchen, waren Menschen am Werk. Jeder Reisende beschleunigte seinen Schritt beim Anblick dieser geometrischen Sonderform, denn man ist ja gern unter Menschen.
Das GEBÄUDE ist dabei ein Sonderfall im Sinne des klassischen rechteckverwendenden Architekturgedankens, das weiß der Betrachter. Dies ist kein Bau, der Reisende beherbergt, hier werden keine Brote gebacken oder Psalmen gelesen, keine Waren getauscht oder gar Wasser geschöpft; hier thronte auch nie ein König. Der Mensch hat dieses Gebäude für Nutztiere geschaffen. Daher fehlen die üblichen architektonischen Assesoires, die sonst vom Menschen geschaffene Behausungen schmücken. Das Rechteck in seiner Schlichtheit tritt zu Tage. Die tragenden Säulen verrichten ihr exaktes mathematisches Werk und die im Süden stehende Sonne wandert durch die rechteckigen Fenster, lässt die Säulenschatten im Gleichschritt über den Wall marschieren.
Wie sehr müssen den Betrachter diese Signale treffen, die an diesem Ort solchermaßen auftreten, dass er schlichtweg seinen rechteckigen Couchtisch in das Ensemble einfügen möchte; seinen Spiegel aufhängen, möglicherweise rechts davon das Handtuch platzieren und vielleicht in die Ecke dort den Schrank?!
Der Betrachter muss aufpassen, denn der Boden der Walles ist sehr glatt.
Nach einigen Sekunden geht es wieder -

Die Mokkakanne brodelt und ich muss eingreifen. Sackzement.
Ich serviere den Kaffee, ernte Lob ob der geschäumten Milch und bewege wohlwollend meinen Kopf nach unten und wieder nach oben. Eine milde Geste, denn ich bin mir der gut geschäumten Milch bewusst.
Dann schlage ich den Gästen vor, die bereits fertiggestellten Arbeiten zu inspizieren und nehme meinen Zollstock mit, um hier und da destruktive Kritik an den Mann zu bringen, milimetergenau. Den Gästen gefällt das und wir machen uns auf den Weg durch das GEBÄUDE. Den Kaffee nehmen wir mit, und auch die gepriesene Milch. Die Kartoffeln müssen noch geschält werden und ich frage die Gäste, ob sie zwei Meter am Graben teilhaben wollen und als Gegenleistung die Kartoffeln schälen würden und mit gewohnter Miene nehm ich ihre Begeisterung zur Kenntnis.
Das wäre geklärt.
Also:

Dem Betrachter ist in diesen Sekunden etwas wiederfahren.
Unmengen an ausgeschütteten Botenstoffen sorgen hier für einen der wenigen Wendepunkte im Leben eines Menschen, in diesem Falle das des Betrachters und tatsächlich sind unsteuerbare Elemente am Werk, wie man sie  allgemein bei Visionen kennt. Der Betrachter hat in wenigen Sekunden beschlossen, diesen Ort, diese Halle mit ihrer Rampe, diesen Tempel des speziellen Polygons zu seinem Campanile zu machen, zu seiner Karawanserei, zu seiner Großen Mauer. Er wird hier einziehen mitsamt seinem Hausrat. Er wird vor dem GEBÄUDE seinen Wagen abstellen und sich über die exponierte Lage am Dorfrand freuen, anschließend sich in seine Räumlichkeiten im Obergeschoß begeben und über das ganze Dorf blicken.
Unbestreitbar stellt sich hier die Frage, in wie weit andere Faktoren an dieser Entscheidung beteilligt sind, als jene, die für solche Prozesse unabdingbar sind. Hierzu zählen natürlich biochemische Prozesse, die stattfinden müssen - wie die bereits erwähnte Ausschüttung beispielsweise von Endorphinen, um zu einem solchen Ergebnis zu kommen. Und dann gibt es Prozesse, die keiner allgemein gültigen Ablaufroutine entsprechen. Hier scheint sich der Betrachter von allen anderen zu unterscheiden. Er reagiert absolut positiv. Er sieht offenbar die riesigen Mistberge nicht, die links und rechts sich türmen, er nimmt den Gestank nicht wahr, der schon seit Jahren auf diesem Tempel lastet, er sieht nicht die Müllberge, die sich hier eng aneinander reihen und er hört das Summen der unendlich vielen Fliegen nicht. Verwarlost ist diese Plichtrunde eines unbekannten Architekten, der Campanile ist schlichtweg zugemüllt, die Karawanserei ist randvoll mit altem Dung, die Große Chinesische Mauer ist dem Verderb ausgesetzt. Doch dieser Eindruck setzt bei unserem Betrachter Reaktionen frei. Wo andere mit ihren biochemischen Prozessen eher Zurückhaltung üben,  wirkt der üble Anblick sichtbar katalytisch auf die des Betrachters. Er will. Er muss. Er kann nicht anders. Das ist nicht mehr aufzuhalten, denn es gibt diesem Prozess keinen Leitstand, der hier regelnd eingreift, es gibt kein Gegenfeuer, das entfacht werden kann und nichts anderes bleibt dem Betrachter übrig, als geduldig das Ende der Vision abzuwarten, wohl wissend, dass er nun einen Auftrag erhalten hat.

Ich nehme einen Schluck Kaffee und winke die Gäste in die zukünftige Toilette.
Ich zeigen den Gästen, dass das ein WC ist und warum wir einen Schacht graben.
Drüben bei Professer Auer werden gerade die lezten zwanzig Meter des Schachts angekratzt.
Da es erst zweiundzwanzig Uhr und zehn ist, beschleunigt der Prof das Arbeitstempo, denn die Kartoffeln werden erst gegen ein Uhr fertig sein. Wir ziehen weiter und lassen die Grabenden hinter uns. Jetzt zeige ich den Gästen noch, wo sie nicht schlafen können, weil da noch gebaut wird. Dann mahne ich die Kartoffeln an und wir begeben uns wieder in die Küche. Die Schälmesser sind schnell verteilt - ich habe wieder etwas Zeit. Also:

Die Anspannung ist sichtbar gewichen. Der Betrachter bewegt sich wieder sicheren Fußes durch das Gebäude. Der Auftrag ist angenommen.
Sein Verstand richtet sich ganz auf die gegebenen Bedingungen ein. Der ausgewaschene Klotz mitten auf künstlich aufgeschüttetem Terrain wird ein neues taubenblaus Gewand  erhalten, seine hohlen Fensteröffnugen werden sich mit orangefarbenen Holz und transparentem Glas füllen. Rauch wird aus den Kaminen steigen, Trinkwasser wird aus einem blitzenden Hahn sprudeln, das elektrische Licht erhellt die Stube und das Mobilar bildet Schatten an den weiß getünchten Wänden. Das Meer aus Brennnesseln wird dem Gemüsegarten, den Obstbäumen und den Ziergewächsen weichen. Die Wassertoiletten werden den hintersten Winkel des GEBÄUDES erobert haben und verweisen unsichbar das Unerwünschte des Hauses und - was noch viel wichtiger ist - die Sonne wird für warmes Wasser sorgen und das Scheit im Kamin für die passende Unterhaltung.
Der Betrachter zögert nicht und legt sich als erstes einen neuen Namen zu: Prof. B. Auer. Damit entledigt er sich seiner Vergangenheit, denn dieses Projekt verlangt danach, es duldet keine Halbheiten. Er wird es auch nicht alleine schaffen, das weiß er und es war auch in diesen kurzen Momenten nie ein Gedanke - ganz im Gegenteil - um dieses Abenteuer durchzuführen, braucht man Gefährten, denn das Rechteck ist auch ein Symbol der Geselligkeit. Mit seinen Gefährten wird er Schächte graben, Gäste zum Arbeiten einladen und Kartoffeln -

Fertig.
Die Kartoffeln sind blank geschält.
Schnell auf den Herd gestellt  - herrlich.
Bald gibts Essen.
"Den Rest " sage ich zu den Gästen. "Den Rest könnt ihr euch ja denken. Schon verrückt, was?.... Salz ist da hinten."

Kommentare: 1
Begeisterter - Di 02.08.2011 22:57
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Begeistert

Hab ich doch grad diesen Text mal wieder genossen! Und da das Sommerloch ja nun Langeweile verbreitet, ist dies doch eine nette Anregung unsere Gedanken fließen zu lassen. Schön is! Lesen unbedingt erwünscht!
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